Deutschland verliert seine Fachkräfte: 56 % der Freelancer wollen weg

Während andere Länder digitale Nomaden willkommen heißen, treibt Deutschland seine Freelancer in die Ferne – mit Bürokratie, Unsicherheit und steuerlichen Nachteilen. Warum fast jeder Zweite über einen Neustart im Ausland nachdenkt und wie die Politik dagegen vorgehen möchte, klären wir in diesem Artikel.
Auftrags-Bremse Scheinselbstständigkeit
Für 66 % der Freelancer in Deutschland ist laut Freelancer-Kompass das ständige Damoklesschwert der Scheinselbstständigkeit eine der größten Herausforderungen. Obwohl die Politik Freelancer mit dieser Regelung nur vor Ausbeutung schützen möchte, bremst sie damit sowohl Unternehmen als auch Freelancer gleichermaßen aus.
Ein Beispiel: Das Bundessozialgericht hat im April 2024 erneut ein Urteil gefällt, das die strenge Linie der Rechtsprechung in Bezug auf Freelancer bestätigt. Dabei ging es um einen Piloten, der im Rahmen eines Dienstvertrages für ein Unternehmen tätig war. Das Gericht entschied, dass diese Tätigkeit aufgrund der fehlenden eigenen Arbeitsmittel und der engen Eingliederung in den Betrieb als abhängige Beschäftigung und somit als scheinselbstständig einzustufen ist.
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Die Konsequenzen für Auftraggeber sind erheblich: Sie müssen rückwirkend Sozialversicherungsbeiträge nachzahlen und können sogar strafrechtlich belangt werden. Das hat zur Folge, dass viele Unternehmen trotz Fachkräftemangel und der zahlreichen Vorteile einer Zusammenarbeit mit Freelancern weiterhin zögern, diese Arbeitsform zu nutzen.
Besonders die geringe Rechtssicherheit mindert die Bereitschaft vieler Unternehmen, trotz ihres akuten Bedarfs mit Freelancern zusammenzuarbeiten. Zu groß ist die Angst, nach einer Betriebsprüfung rückwirkend für mehrere Jahre Sozialabgaben nachzahlen zu müssen.
Thomas MaasCEO von freelancermap
Folgen der rechtlichen Unsicherheit
Für Freelancer sind die Folgen prekär: Fürchten sich mehr Unternehmen vor der Statusfeststellung „Scheinselbstständigkeit“, geht die Auftragslage für Selbstständige weiterhin zurück. Das wiederum gefährdet die Existenzgrundlage von Freiberuflern. Andreas Lutz, Vorstandsvorsitzender des Verbands der Gründer und Selbstständigen Deutschland e. V. (VGSD) bestätigt: „So werden Aufträge beendet und an Selbstständige im Ausland vergeben.“
hinweis
Auch eine Reform des Statusfeststellungsverfahrens bietet nicht mehr Sicherheit
Anstatt für sichere Verhältnisse zu sorgen, wann nun eine Scheinselbstständigkeit vorliegt und wann nicht, hörten wir von der politischen Seite nur einen Verweis auf die Reform des Statusfeststellungsverfahrens:

Mit der letzten Reform besteht seit 1. April 2022 die Möglichkeit, dass Auftragnehmer und Auftraggeber schon im Vorfeld eine verbindliche Entscheidung der Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung Bund einholen und damit frühzeitig Rechtssicherheit darüber zu erhalten, ob sozialversicherungsrechtlich eine abhängige Beschäftigung oder eine selbstständige Tätigkeit vorliegt.
Dr. Rolf SchmachtenbergBundesministerium für Arbeit und Soziales
Andreas Lutz (VGSD) erkennt in der Reform mehr Rückschritt als echten Fortschritt: „Sie hat zu mehr Rechtsunsicherheit, längeren und bürokratischeren Verfahren geführt.“ Das Problem: Die Beurteilung, ob man scheinselbstständig ist oder nicht, erfolgt noch anhand von Negativkriterien.
Jens Teutrine (FDP) findet sogar, dass die deutsche Rentenversicherung nicht die geeignetste Institution sei, um eine solch wichtige Einschätzung abgeben zu können. Seiner Ansicht nach könnten beispielsweise die Finanzämter eine sinnvollere Prüfung durchführen. Schließlich freut sich die eine Seite über mehr Beitragszahler, während die andere Seite schon heute prüft, ob jemand als Freiberufler tätig ist oder nicht.
Diese Ansicht vertritt auch Erhard Grundl, Mitglied der Grünen: „Eigentlich hätten wir mit der Kleinunternehmerregelung bereits ein gesetzlich festgelegtes Kriterium.“ Er macht zudem deutlich, wie wichtig Freelancing für die Wirtschaftskraft Deutschlands ist:
Selbständigkeit ist ein wichtiger Bestandteil der Wirtschaftskraft unseres Landes. Es ist dabei wichtig, eine klare Abgrenzung zur Scheinselbständigkeit festzulegen. Weisungsgebundenheit verträgt sich nicht mit der Selbstständigkeit. Wichtig ist, dass sich die Rentenversicherung bei ihrer Überprüfung nachvollziehbarer Kriterien bedient.
Erhard GrundlGrünen-Fraktion
Pflicht zur Rentenversicherung beseitigt das Problem der Scheinselbstständigkeit nicht
Im Mai 2024 präsentierte Dr. Rolf Schmachtenberg auf Europas größter Freelancer-Konferenz, der Freelance Unlocked, die Pläne der Bundesregierung zur Einführung einer Rentenversicherungspflicht für Selbstständige. Einige Inhalte seines Vortrags waren:
- 20 % der Solo-Selbstständigen in Deutschland sind altersarmutsgefährdet. Dagegen will die Bundesregierung mit der Altersvorsorgepflicht (AV) für neue Selbstständige vorgehen.
- Antragsstellungen und Genehmigungsprozesse sollen digitalisiert werden und dadurch weniger bürokratischen Aufwand verursachen.
- Es soll eine Wahlfreiheit geben. Diese bezieht sich aber nicht darauf, ob man einzahlen will oder nicht, sondern darauf, welche Zusatzprodukte man haben möchte – oder eben keine.
- Die Einführung der Altersvorsorgepflicht für Selbstständige ist in Arbeit, allerdings mahlt die Mühle der Bürokratie nur langsam.
- Das Risiko Scheinselbstständigkeit wird durch eine verpflichtende Rentenversicherung für Solo-Selbstständige nicht abgeschafft, sondern höchstens abgemildert.
Hier den ganzen Vortrag ansehen:
Diese Punkte decken sich auch mit den Forderungen im neuen Koalitionsvertrag. Die Altersvorsorgepflicht soll demnach 2025 für neue Selbstständige eingeführt werden. Dabei wurde die Wahlfreiheit zur Vorsorgeform deutlich konkretisiert: Auch Immobilien, ETFs und Fonds sind unter anderem erlaubt.
Gegen die Renten-Reform sprechen sich nicht nur Freelancer aus, sondern auch die Politik selbst. Dieter Falk ist bereits seit der Jahrtausendwende Freelancer und ist zudem Beisitzer im Bundesvorstand der Arbeitsgemeinschaft der Selbstständigen (AGS) in der SPD.
Er betont, dass Freiberufler, die bereits den im Freelancer-Kompass erwähnten Durchschnitts-Stundensatz von 104 Euro (oder mehr) verdienen und pro Monat im Schnitt 1.100 Euro für ihre private Altersvorsorge zurücklegen können, nicht vom Staat vor Ausbeutung und Altersarmut geschützt werden müssten.
Natürlich gibt es auch zahlreiche Ausnahmen, die als Solo-Selbstständige nicht einmal das Existenzminimum erwirtschaften. Für diese Gruppe bräuchte es andere Lösungen als für die Gutverdiener.
Wer dann sehr wenig verdient und Sozialleistungen bekommen muss, erhält letztlich jene Leistungen von der Allgemeinheit, die der Unternehmer ihm vorenthalten hat.
Dieter FalkSPD
Warum Bürokratie viele Selbstständige zum Auswandern bewegt
Nicht nur die Scheinselbstständigkeit hemmt das Freelancer-Dasein in Deutschland. Ansässige Freiberufler fordern vom Staat laut Freelancer-Kompass 2025 neben der Abschaffung der Scheinselbstständigkeit insbesondere auch eine Reduktion der Bürokratie (68 %).
Die freiberufliche Expertin für digitales Marketing, Olivia Olivares, verdeutlicht: „Es wird immer schwieriger, selbstständig zu sein. Man verliert schon den Überblick über die ganzen Regelungen und Gesetze.“

Solo-Selbstständige in Deutschland müssen sich selbst um die Abgabe ihrer Krankenversicherung und Pflegeversicherung kümmern, regeln ihre Buchhaltung eigenhändig, zahlen hohe Steuern und Sozialabgaben und sollen dabei auch noch über Gesetzesänderungen und Reformen auf dem Laufenden bleiben. Gerade Letzteres sorgt nur zu längeren, bürokratischen Verfahren und zu mehr Rechtsunsicherheit, wie Dr. Andreas Lutz vom Verband der Gründer und Selbstständigen kritisiert.
Die deutsche Bürokratie macht die Arbeit im Ausland für viele Freelancer deutlich attraktiver. Eine von uns durchgeführte Befragung zum Thema „Abwanderung von Freelancern“ ergab:
- 42 % erhoffen sich bessere Lebensbedingungen im Ausland
- 38 % erwarten steuerliche Vorteile durch das Abwandern
- 37 % ziehen das Auswandern aufgrund persönlicher oder gesellschaftlicher Gründe in Betracht
- 34 % geben die deutsche Bürokratie als Entscheidung für das Abwandern an
- 28 % nutzen die Arbeit im Ausland als Chance, um ihren Horizont zu erweitern
- 25 % sehen im Ausland eine geringere Gefahr der Scheinselbstständigkeit
- 20 % zieht es aufgrund besserer beruflicher Chancen weg
Lebensqualität im Fokus der Befragten
Was Freelancer besonders an der Aussicht auszuwandern reizt, sind von Ihnen erhoffte verbesserte Lebensbedingungen im Ausland. Darunter können sich gleich mehrere Aspekte verbergen:
- Viele Länder bieten geringere Lebenshaltungskosten bei gleichzeitig besserer Infrastruktur oder vermehrter staatlicher Unterstützung für Selbstständige.
- Einige Freelancer zieht es bewusst in Regionen mit besserem Klima, mehr Sonnenstunden oder einer höheren Umweltqualität.
- Auch gesellschaftliche Offenheit und persönliche Freiheiten können eine entscheidende Rolle beim Abwandern in ein bestimmtes Land spielen.
- Schnellere Internetverbindungen sowie moderne (und kostengünstigere) Coworking-Spaces machen bestimmte Länder besonders attraktiv.
Seitens der Politik fehlt nicht nur Unterstützung, sondern auch Verständnis
Die Gründe für das Abwandern sind vielfältig und zeigen auf, wie dringlich Reformen in den Bereichen der Bürokratie, Steuerlast und Scheinselbstständigkeit sind. Auch der Politik sind die Probleme der Freiberufler in Deutschland bewusst, konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Situation lassen allerdings noch lange auf sich warten. Jens Teutrine, Mitglied des Deutschen Bundestages (FDP) sieht vor allem ein grundlegendes kulturelles Problem hierzulande:
Die Selbstständigkeit wird als Beschäftigung zweiter Klasse betrachtet – das ist ein grundsätzliches kulturelles Problem.
Jens TeutrineFDP
2024 vs. 2025: Auswanderungsbereitschaft leicht gesunken
Im Vergleich zum Vorjahr zeigt sich ein klarer Trend: Die Auswanderungsbereitschaft unter deutschen Freelancern nimmt leicht ab, bleibt aber dennoch auf einem hohen Niveau. Wollten 2024 noch über die Hälfte der Freelancer abwandern (54 %), sind es dieses Jahr „nur“ 48 %. Dagegen ist die Anzahl der Freelancer, für die das Auswandern überhaupt nicht in Frage kommt, um 5 % zum Vorjahr gestiegen. Das veranschaulicht die folgende Tabelle im Vergleich:
Antwort | 2024 | 2025 | Veränderung in Prozentpunkten |
Ziehe ich in Betracht | 54 % | 48 % | -6 |
Kommt für mich nicht in Frage | 22 % | 35 % | +13 |
Plane ich konkret | 14 % | 8 % | -6 |
Habe ich bereits vollzogen | 10 % | 9 % | -1 |
Fazit: Politik schafft nicht den richtigen Rahmen für Solo-Selbstständige
Trotz eines leichten Rückgangs im Vergleich zum Vorjahr bleibt die Auswanderungsbereitschaft deutscher Freelancer hoch – und sendet nach wie vor ein deutliches Signal an die Politik. Bereits 9 % der Selbstständigen haben Deutschland verlassen, weitere 8 % planen konkret ihre Auswanderung. Fast jeder zweite Freelancer (48 %) zieht einen Umzug ins Ausland in Betracht, sollte sich die politische Lage für Selbstständige in Deutschland nicht spürbar bessern.

Während Länder wie Portugal kräftig Fachkräfte anwerben (Non-Habitual-Resident-Steuerregime), fördert Deutschland eher die Abwanderung durch komplexe Regeln und Gesetze sowie eine unsichere Zukunft für Freelancer.
Grüne und CDU sind sich einig: Deutschland kann es sich nicht leisten, auf hoch qualifizierte Fachkräfte zu verzichten. Marc Biadacz von der CDU betont: „Da sind Arbeitsplätze und Menschen, die nicht verloren gehen dürfen.“ Die Politik müsste nur den Rahmen für Selbstständige schaffen. Wie genau der aussehen soll, weiß jedoch keine Partei so genau.
Freelancer werden bei gesetzlichen Vorgaben nicht mitgedacht, es fehlt leider an Ansprechpartnern in den zuständigen Ministerien mit der für ein besseres Verständnis nötigen Spezialisierung auf diese Gruppe.
Dr. Andreas LutzVerband der Gründer und Selbstständigen (VGSD)
Entwickelt sich die politische Diskussion um Freelancer in den nächsten Jahren nicht zum Guten für Solo-Selbstständige, könnte laut der Einschätzung von Thomas Maas die Zahl der digitalen Nomaden bis 2035 auf eine Milliarde ansteigen. Bereits in diesem Jahr sind 62 % aller Freelancer vollständig remote im Einsatz und damit schon jetzt unabhängig von ihrem Einsatzort – und von Deutschland.
